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Weitere Gebote, Pflichten und Traditionen
Die meisten Gebote und Pflichten, die in der
muslimischen Gesellschaft eingehalten werden, beruhen
nur selten direkt auf koranischen Aussagen, sondern
vielmehr auf traditionellen Werten, die aus der Sunna,
den Überlieferungen, stammen.
Reinigung
Reinheit in Körper, Seele und Geist ist ein
grundlegendes Gebot und eigentliche Grundlage aller
Religiosität. Der Ausdruck La ilaha il-Allah des
Glaubensbekenntnisses heisst in der Praxis, dass alles,
was nicht Gott ist, wegzulassen ist, damit dann nur noch
Gott übrigbleibt. Dieser Akt widerspiegelt sich in den
verschiedenen praktischen Formen der Reinigung, wie
insbesondere
vor jedem Gebet oder jeder rituellen Handlung;
nach gewissen körperlichen Zuständen wie
Geschlechtsverkehr, Samenerguss, Geburt und Tod. Nach
einem Todesfall soll während drei Tagen keine Speise ins
Haus gebracht werden. Die Zeitspanne der Reinigung bzw.
Erholung nach Geburt oder Tod ist 40 Tage;
in Zeiten des Rückzugs wie Retraiten, Klausuren (khalwa,
türk. halvet oder chilla), Fastenwochen,
etc. Die klassische Zeit der "Reinigung" ist 40 Tage.
Bekleidung, Bedeckung, Verhüllung
Die Vorschriften über das Bedecken von Körperteilen ist
nirgends klar festgelegt. Der Koran sagt in Sure 24,31,
dass die Frau "ihren Schmuck" verhüllen soll. Darunter
sind wohl ihre körperlichen Reize gemeint, was in den
unterschiedlichen Gesellschaftsformen natürlich
verschiedener Interpretation bedarf. Ganz allgemein ist
überliefert, dass ein heiliger Ort nicht mit unbedecktem
Haupt zu betreten ist. Dies gilt für Männer und Frauen.
Auch ein Gebet oder Dhikr als heilige Handlungen werden
vorzugsweise bedeckten Hauptes ausgeübt.
Speisegebote
Ihr Gläubigen! Kommt nicht betrunken zum Gebet, ohne
vorher (wieder zu euch gekommen zu sein und) zu wissen,
was ihr sagt! (Sure 4,43)
steht im Koran, und später werden der Wein und ein
bestimmtes Glücksspiel (Arabisch Meisar: mit
Pfeilen wird um ein junges Kamel gespielt, das dann
geschlachtet und an die Armen verteilt wird) meist
zusammen erwähnt. In beiden liegt grosse Sünde
(Schaden) und Nutzen für die Menschen; die Sünde in
ihnen ist jedoch grösser als ihr Nutzen (2:219).
Die Symbole des Weins, des Trinkens und des
Berauschtseins spielen in der Poesie des Islam eine
wichtige Rolle, wobei nicht vom Traubenwein, sondern vom
Liebeswein die Rede ist. Sogar in einem Hadith wird der
Wein genannt: Gott gibt Seinen Freunden einen Wein,
von dem sie berauscht werden ..... und schliesslich
Einigung erreichen.
Weiter wird im Koran ein Verbot von Krepiertem, Blut und
Schweinefleisch erwähnt, sowie Speisen, über denen beim
Schlachten ein anderer Name als Allah (der Eine Gott)
angerufen wurde. Auch Erschlagenes, Erwürgtes und das
durch Hörnerstoss oder Sturz umgekommene wird verwehrt,
... ausser dem, was ihr reinigt ... (5:4). ...
Wer aber dazu gezwungen wird, ohne Verlangen danach und
ohne sich zu vergehen, auf dem sei keine Sünde ... (Sure
2:173).
Gläubige und Ungläubige
Die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen
kommt im Koran oft vor. Das mit "ungläubig" übersetzte
arabische Wort ist kafîr, was genau genommen
zudecken oder verstecken bedeutet, im Sinne des
Zudeckens von dem, was der Wahrheit entspricht.
"Ungläubige" sind jene Menschen, die der Wirklichkeit
den Rücken kehren, um ihren eigenen Vorstellungen und
Wünschen nachzugehen. Es sind Menschen, die nicht
anerkennen wollen, dass Gott ihnen Botschaften
übermittelt hat. Sie werden darum auch die Undankbaren
genannt.
Jihâd und Hijra
Das Wort Jihâd stammt vom arabischen Wort Jahd
ab, was Anstrengung bedeutet. In der Interpretation wird
unterschieden zwischen dem "grösseren Jihad", nämlich
der ständigen Anstrengung zur inneren Reinigung und des
Bekämpfens der inneren Triebe aus der niederen Natur des
Menschen (Nafs), und dem "kleineren Jihad", der
Anstrengung zum Zwecke Gottes in der äusseren Welt. Der
Prophet Muhammad unterwarf seine Gefährten der Praxis
des Jihâd fi sabîlillâh, dem Kampf um Allahs
Willen. Es ist das, was dem Ego am schwersten fällt.
Im weiteren übten die Gefährten Hz. Muhammads Hijra,
den "Auszug". Der Tag des Auszugs aus Mekka Ende
September 622 wurde zum Beginn des islamischen lunaren
Kalenders, der einen völligen Bruch mit den alten
semitischen Fruchtbarkeitskulten bedeutete, die sich
nach dem Sonnenjahr und den Jahreszeiten richteten. Auf
persönlicher Ebene bedeutet Hijra jedoch den
Auszug aus Zuständen und Haltungsweisen, die dem Gehen
auf dem Geraden Weg nicht förderlich sind. Dazu gehört
das sich Wegwenden und Vermeiden von Gesellschaften, die
der islamischen Ethik zuwiderlaufen.
Die Pflicht des Jihads wird von Fundamentalisten dazu
missbraucht, die Menschen zum "heiligen Krieg
gegen Ungläubige" aufzurufen (Suren 2,191 und 3,169).
Einem solchen Verständnis schliesst sich ein grosser
Teil der Muslime nicht an. Ein Verdrehen der Bedeutung
von Jihad beruht auf der falschen Vorstellung, dass man
mit Sicherheit wissen könne, was Gottes Wille in der
erschaffenen Welt ist. Selbst Propheten wissen dies
nicht, was die Geschichte von Khidr und Moses im Koran
(18: 71-82) eindrücklich beschreibt.
Kein Mensch darf zu religiös orientierten Taten
gezwungen werden. Sure 2,256 stellt fest: In der
Religion gibt es keinen Zwang.
Die Beschneidung
Der Koran erwähnt die Beschneidung nicht, doch die
Legende sagt, dass Hz. Muhammad beschnitten geboren
wurde. Dadurch hat diese vorislamische Tradition wie
selbstverständlich weitergelebt. In weiten Teilen der
islamischen Welt wird davon ausgegangen, dass die
Beschneidung eines Knaben Pflicht sei und die eines
Mädchens etwas Ehrendes. Über die Behandlung erwachsener
Konvertiten besteht keine Einigung.
Adab
Adab
ist der Anstand, der das gute Benehmen in der
Gesellschaft regelt. Bei ziemlich allen islamischen
Gemeinschaften übt Adab eine zentrale Rolle, ist es doch
das Verbindende im Umgang mit anderen Menschen sowie der
Natur. In dieser Verbindung zum Lebendigen ist Gott dem
Menschen am nächsten, und in dieser Verbindung werden
die Qualitäten Gottes, die in Seinen heiligen Namen zum
Ausdruck kommen, sichtbar.
Die Grussformel
Im Koran (Sure 24,61) wird der Gläubige aufgefordert,
mit Friedensformeln zu grüssen, und gemäss der
Überlieferung ermahnte der Prophet, mit einer noch
schöneren Formel zu antworten. Deshalb grüsst der Muslim
mit der Formel As-salâm ‘alaykum "Friede sei mit
euch", worauf man antwortet Wa ‘alaykum as-salâm wa
rahmatu Llâhi wa barakâtuhu "und mit euch sei Friede
und Gottes Barmherzigkeit und Sein Segen".
Die Gesellung
Seid mit den wahren Menschen!,
so lautet ein heiliges Gebot. Diese Aufforderung
beinhaltet einerseits, Menschen zu finden, die Vorbild
und Führung offerieren, und andererseits soll man sich
mit solchen Menschen zusammentun, die in ihrem Sehnen
ein Ausdruck dessen sind, was man selbst als Wahrheit
empfindet. Nun ist es aber nicht leicht, seine eigene
Wahrheit zu finden oder gar zu erkennen.
Es ist nicht einfach, einen anderen Menschen objektiv zu
beurteilen - und dies ist dann besonders schwer, wenn er
zum Führer wird. Die eigenen unerfüllten Wünsche machen
einen blind in der Wahrnehmung, und so drängt es den
Menschen dorthin, wo die angenehmsten Versprechungen
gemacht werden, und das sind nun mal jene, die das
eigene Ego befriedigen. Anregende oder schmeichelnde
Versprechungen kommen normalerweise von Menschen, die
ihr eigenes Ich zu befriedigen suchen. Erkennen tut man
solche Menschen meist daran, dass sie - direkt oder
indirekt, oder gar auf subtile Art - ihr eigenes Ich
hervorzuheben suchen.
‘Ilm,
das religiöse Wissen und ‘Irfân, Gnosis
Es ist eine religiöse Pflicht für alle, religiöses
Wissen (‘ilm) zu suchen. Sucht Wissen selbst
in China, wird vom Propheten überliefert. In einem
weiteren Hadith sagt aber der Prophet auch: Ich nehme
Zuflucht bei Gott vor einem nutzlosen Ilm.
"Nützliches Wissen" lässt einen wissen, wie man jeden
Augenblick des Lebens im Dienste Gottes nutzen kann und
wie man alles, selbst etwas scheinbar profanes, im
Einklang mit dem göttlichen Gesetz durchführen soll.
Der Ausdruck ‘Irfân steht für Gnosis im Sinne
inspirierter mystisch-philosophischer Weisheit, wie sie
als Folge von vertieftem Ilm im Sufismus und in der
Theosophie islamischer Prägung anzutreffen ist.
Hingabe und Dienen
In den heiligen Büchern wird der Mensch dann gelobt,
wenn er ein guter Diener seines Herrn ist. Aber was
heisst, ein guter Diener zu sein? Was muss man tun, um
von Gott als guter Diener gesehen zu werden? Diese Frage
stellt sich ein ernsthaft Suchender immer wieder. Gemäss
den heiligen Schriften ist jede Lobpreisung Gottes ein
Dienst an Ihm, denn Gott hat den Menschen dafür
erschaffen, dass er Ihn preise. Jede gute Arbeit und
jeder Ausdruck einer guten Tat können eine Lobpreisung
Gottes sein.
Ich war ein verborgener Schatz und sehnte Mich danach,
erkannt zu werden;
also schuf Ich die Welt, auf dass Ich erkannt würde.
(Hadith qudsi)
Das Tieropfer
Die Aufforderung, in der Zeit des Hajj und in anderen
speziellen Momenten ein Tier zu opfern, stammt aus der
Sunna und nicht aus dem Koran. Das Tieropfer ist eine
alte Tradition, die als Ersatz zum Menschenopfer gesehen
werden kann (Geschichte von Abraham und seinem Sohn,
wobei nicht klar ist, ob der ältere Ismael oder der
jüngere Isaak zu opfern war), um die Gunst Gottes auf
sich zu ziehen. Das Tieropfer macht aus moderner Sicht
nur dann Sinn, wenn das Fleisch und das Fell des Tieres
auch äusseren Nutzen bringt, insbesondere zur Speisung
von Armen.
Kalender und Feiertage
Der islamische Kalender beruht auf dem Mondjahr,
bestehend aus 354 Tagen bzw. 355 Tagen in einem
Schaltjahr, und 12 Monaten von abwechselnd 29 und 30
Tagen. Der islamische Jahresbeginn verschiebt sich also
im Sonnenjahr jährlich um ca. 11 Tage zurück, und ebenso
geschieht dies mit allen Feiertagen, Der neue Tag
beginnt jeweils bei Sonnenuntergang. Der lunare Monat
beginnt, wenn der Neumond von zwei aufrechten
zuverlässigen Zeugen gesichtet wird. Der Neumond wurde
daher zum Lieblingssymbol der islamischen Kultur.
Die islamische Zeitrechnung setzt mit der Hijra (Auszug)
des Propheten aus Mekka im Jahr 622 ein. Die 12
islamischen Monate mit den wichtigsten Feiertagen sind
Muharram - Neujahrsfest am 1. Muharram
-
(Schiitisches) Heiligenfest am 10. Muharram
Safar
Rabi‘ al-Awwal - Mawlid al-Nabi (Geburtstag des
Propheten) am 12.
Rabi‘ al-Awwal
Rabi‘ al-Thani
Jumada l-ula
Jumada l-akhira
Rajab - Al-Mi‘raj (Himmelfahrt) des Propheten am 27.
Rajab
Sha‘ban
Ramadan - Fastenbeginn am 1. Ramadan
-
Laylat al Qadr (Nacht der Macht am 27. Ramadan
Shawwal - Aîd al-Fitr: Opferfest zum Fastenbrechen am 1.
Shawwal
Dhu al-Qa‘ada
Dhu al-Hijja - Aîd al-Adha: Opferfest am 10. Dhu
al-Hijja als Teil der Wallfahrt
(in Erinnerung an das Opfer Abrahams mit seinem Sohn
Ismail)
Anregungen
Gott schuf die Welt aus Gegensätzen, damit Erkenntnis
möglich würde. Mit dem Entstehen der Welt entstand auch
ihre Sehnsucht zurück nach dem ursprünglichen Zustand
der Einheit. Jeder Mensch ist ein Suchender, ob er es
wahrhaben will oder nicht; er will verstehen - er will
erkennen - er will erkannt werden. Seine Suche mag alle
möglichen Formen annehmen, doch in ihrer letzten
Konsequenz - und dies lehrt die islamische Botschaft
ganz klar - endet die Suche in nichts anderem als der
puren Lobpreisung Gottes. Dieses einzige was letztlich
bleibt, ist allgegenwärtig in allen Ebenen der Existenz.
Die Lobpreisung Gottes ist der eigentliche Sinn der
Schöpfung. Nun hat das äussere Ritual seinen inneren
Sinn, und umgekehrt erhalten ein inneres Verständnis
oder eine innere Haltung ihren abschliessenden Wert,
wenn sie sich in äusseren Handlungen widerspiegeln.
Allerdings ist die Beständigkeit der Wirkung in den
verschiedenen Ebenen unterschiedlich. Eine äussere Tat
wird nur so lange eine direkte Wirkung ausüben, bis die
Handlung vorüber ist. Sie wird aber einen inneren Wert -
eine Erinnerung - hinterlassen, die viel länger bestehen
kann. Ein äusseres Ritual soll darum zur Stärkung der
inneren Haltung regelmässig repetiert werden, so wie die
Ruder eines Bootes regelmässig ins Wasser getaucht
werden, um dem Boot ein gleichmässiges Vorwärtskommen zu
ermöglichen.
Denn es besteht eine Einheit zwischen Sinn und Form;
solange die beiden nicht zusammenkommen, bringen sie
keinen Nutzen, so, wie der Pfirsichkern, den du ohne
Schale pflanzt, nicht wächst.
(Mevlana, Fihi ma Fihi)
Der Mensch kommt nicht darum herum, ein Risiko
einzugehen. Es gibt keine Garantie für Erleichterungen
im weltlichen Leben, wenn religiöse Regeln eingehalten
werden. Ein kurzer Blick aufs Weltgeschehen genügt, um
sich von idealisierten Vorstellungen der weltlichen
Gerechtigkeit abzuwenden. Hingegen kann der Mensch davon
ausgehen, dass sich etwas ändert, wenn er bestehende
Vorstellungen loslässt und sich ohne Erwartungen auf
einen gewählten Weg begibt. Neue Türen öffnen sich, und
die Denk- und Sichtweise verschiebt sich in eine neue
Haltung. Der Koran offenbart sich dem, der den Koran
liebt. Statt alles verstehen zu wollen, bevor etwas
getan wird, lohnt es sich manchmal, mit dem Tun zu
beginnen, um daraus Erkenntnisse zu erlangen. Nicht
der Text selbst ist die Offenbarung, sondern das, was
der Gläubige jedesmal neu entdeckt, wenn er es liest,
meint der marokkanische Gelehrte Aziz Lahbabi, und ein
früherer Rektor der al-Azhar Universität in Kairo drückt
die Problematik der Wahrheitsfindung und Interpretation
wie folgt aus:
Wahre Religion kann der Wahrheit nicht widersprechen,
und wenn wir positiv von der Wahrheit einer
wissenschaftlichen Bemerkung überzeugt sind, die mit dem
Islam unvereinbar ist, so nur, weil wir den Koran und
die Tradition nicht richtig verstehen. In unserer
Religion besitzen wir eine universale Lehre, die
erklärt, dass, wenn eine apodiktische (unwiderlegliche)
Wahrheit einem offenbarten Text widerspricht, wir dann
den Text allegorisch interpretieren müssen.
Es ist eine echte Herausforderung, in der sich ständig
wandelnden Welt und insbesondere in der modernen
Gesellschaft den Koran als eine Referenz für einen
geistigen Weg zu nehmen. Den westlich erzogenen Menschen
erschrecken die immer wiederkehrenden Warnungen und
Drohungen. In seinem äusserlichen Ausdruck
(gesellschaftliche Themen und Werte) eröffnet der Koran
eine Momentaufnahme der Wahrheitsfindung vor vielen
Jahrhunderten, die heute nicht mehr das äussere
Weltgeschehen widerspiegelt. So muss der Mensch es denn
wagen, das äussere Gebaren in der Religion, das als
Spiegel für innere Erkenntnis dienen soll, immer wieder
neu zu interpretieren und gemeinsam mit den
Glaubensgenossen festzulegen. Es wäre zu einfach und
nicht der Sinn des Menschseins, die Verantwortung für
sein Tun an Gott zurückzudelegieren, indem einfach eine
Menge traditioneller Regeln eingehalten werden. Der Weg
des Menschen ist und bleibt ein Wagnis, eine
Herausforderung und nicht eine Prozedur der Absicherung
durch Regeln. Es ist sinnlos, nach Garantien zu
verlangen oder nach solchen zu suchen. Vielmehr soll der
Mensch lernen, sich absolut bedingungslos in Gottes
Hände zu geben.
Der scheinbare Mangel an Zusammenhang im Koran verrät in
Wirklichkeit eine höhere Ordnung, die nur jene erkennen,
die Augen haben zu sehen, das heisst, die den Koran
durch Tahqîq, direkte Erfahrung, lesen und nicht
durch Taqlîd, dogmatische Nachahmung. Der Diener
Gottes lässt innerlich los und ringt zugleich äusserlich
um den rechten Weg, der voller Paradoxe ist. Nicht die
Menge an Wissen zeichnet den Heiligen aus, sondern die
Art und Weise, wie er mit Paradoxen umgeht. Gott ist
sowohl transzendent und damit grösser als die
erschaffene Welt, als auch immanent in allem enthalten.
Diese zwei Gesichter Gottes drücken sich aus in den
Formeln Allah-hu Akbar (Gott ist die Grösse) und
La ilaha il Allah (es gibt keinen Gott ausser dem
Einen Gott).
Wenn Gläubiger und Ungläubiger zusammensitzen und nichts
ausdrücken und sagen, dann sind sie ein und derselbe.
Gedanken können nicht festgehalten werden; das Innere
ist eine freie Welt. Denn die Gedanken sind subtil und
können nicht (vom Richter) gerichtet werden. Wir
urteilen nach dem Äussern, und Gott beherrscht die
innersten Herzenskerne.
(Mevlana, Fihi ma Fihi)
Ein Scheich sagte einmal: Wenn du nicht weisst, wohin
du gehst, dann ist jeder Weg richtig.
Selbstverständlich gibt es verschiedene Wege, die ans
gleiche Ziel führen. Ist aber mal ein Weg begonnen, dann
tut man besser daran, den eingeschlagenen Weg konsequent
zu befolgen. Rituale und das Einhalten periodischer
Pflichten sind wie Meilensteine, die des Weges erinnern.
Den wertvollsten Herausforderungen auf dem Weg begegnet
man erst dann, wenn die anfängliche Zeit der Faszination
fürs Neue vorüber ist. Es ist nun mal nicht möglich,
Erkenntnis zu erlangen, um anschliessend einen Weg zu
wählen. Der Mensch muss sich zuerst auf den Weg begeben,
und dann erst wird ihm Erkenntnis zuteil. Gottes
Geschenke sind nicht voraussehbar und nicht planbar.
Zuerst das Pflügen, Sähen und Bewässern - und dann die
Ernte.
In einigen Sufi-Orden, die allesamt im Islam begründet
sind, werden Rituale durch Musik und Körperbewegungen
untermauert. Dies stösst bei manchen normativ denkenden
Muslims auf Ablehnung, denn Gott hat befohlen, Ihr
Gläubigen kommt nicht betrunken zum Gebet! (4.43).
Ausserdem sind solche Praktiken in ihren Augen auch
deswegen zu verwerfen, weil diese das absolute
Anderssein Gottes (transzendenter Aspekt Gottes), das
auch mit der stärksten Ekstase nicht erreichbar ist,
nicht zu respektieren scheinen. In ihren Augen besteht
der einzige Weg im Gehorchen Seiner Befehle und Seines
offenbarten Gesetzes, denn niemand kann Gott erblicken
(Sure 6,103). Gerade deshalb seien hier zum Semâ‘,
dem Ritual des Drehtanzes in der Mevlevi-Tradition, noch
einige Hinweise gegeben. Der Drehtanz soll aus der
Nüchternheit des Alltags über eine Ekstase (im Sinne der
Glückseligkeit der Einigung) in eine Nüchternheit
höherer Ordnung führen. So verstanden kann der Drehtanz
als eine "Leiter zum Himmel" gesehen werden, oder auch
als Teil von Tawhîd, der Wissenschaft der Einheit
allen Seins. Der Drehtanz wurde schon im 9. Jahrhundert
von den Sufis in Bagdad praktiziert und dann aber erst
von Sultan Walad, Hz. Mevlana Celaleddin Rumis
Sohn und zweitem Nachfolger, anlässlich der formellen
Organisation des Mevlevi-Ordens institutionalisiert und
perfektioniert. Semâ‘ heisst "Hören" im Sinne des
Hörens auf die zur Einheit führenden Klänge. In der eben
erwähnten "Nüchternheit höherer Ordnung" konzentriert
sich das Hören auf das Wahrnehmen verschiedenster Formen
des "Klanges der Einheit", oder, wie es etwa in der
Theosophie ausgedrückt wird, der "Stimme der Stille".
Mevlana zum Beispiel hörte die süsse Melodie der
göttlichen Frage Bin ich nicht euer Herr?
(Sure 7,172).
Das End-h von Allâh weist auf den Hauch hin, in
dem letztlich - mit den "Augen des Herzens" - ein
Abglanz Seiner Majestät erblickt wird. "HUUUU ..." rufen
die Mevlevis am Ende ihrer Gebete. Mein Himmel und
Meine Erde umfassen Mich nicht, aber das Herz Meines
gläubigen Dieners umfasst Mich (Hadith qudsi).
..... und wenn die Reise zu Gott beendet ist, beginnt
die unendliche Reise in Gott .....
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