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DIE FRAU IM ISLAM

Der Ruhepol in einer
sich drehenden Welt
(von Hüseyin Peter Cunz, fakir-ul Mevlevi, Schweiz)
At the still point of the turning world. (Im Ruhepol
der sich drehenden Welt)
Neither flesh nor fleschless; (Weder Fleich noch
fleischlos)
Neither from nor towards; (Weder von noch für)
At the still point, there the dance is, (Im Ruhepol,
dort ist der Tanz)
But neither arrest nor movement. (Aber weder im
Stillstand noch in Bewegung)
(T.S. Eliot)
Alles was erschaffen ist, befindet sich in Bewegung. Wo
Bewegung ist, existiert ein Referenzpunkt - ein Pol, um
den sich alles dreht. Der Pol kennt weder Anziehung noch
Abstossung, weder Wunsch noch Abneigung, weder
Erkennenden noch Erkannten - er ist überall und doch
nirgends zu sehen, er ist reine Erkenntnis, die in sich
selbst ruht. Wer in der Nähe des Pols ist, kümmert sich
nicht mehr um die Bewegungen der Schöpfung. Doch Allah
ist noch grösser als Seine Schöpfung.
Gott war es nicht genug, in sich selbst zu ruhen, und so
blickte Er für einen kurzen Augenblick auf Sich Selbst -
und hatte damit bereits alle Evolution in Gang gesetzt
und Erkenntnis ermöglicht. Gott wollte die Bewegung, Er
wollte die ständige Veränderung aller Dinge und
Erneuerung der Gegensätze, denn Seine Geschöpfe sollen
sich im Dilemma der Gegensätzlichkeiten nach Ihm sehnen
und Ihn preisen. Hz. Mevlana (radhiyallâhu 'anhu)
spricht immer wieder vom Kontrast zwischen Bewegung und
reinem Sein, und das Mukabele mit dem Drehen der
Derwische zelebriert dies ganz eindrücklich. Alles sehnt
sich zurück an den Ort, wo wir alle herkommen. Dort in
der absoluten Ruhe, dem universellen Frieden, fühlen wir
uns Gott am nächsten. In der Bewegung liegt der Sinn der
Schöpfung verborgen.
So lasst uns anerkennen, dass alles in dieser Welt in
Bewegung und Änderungen unterworfen ist! Und es sind
nicht nur die Umwelt, die Politik und das soziale
Zusammenleben, die im Okzident wie im Orient sich
ändern. Auch die Religion ist mit den Änderungen der
Zeit konfrontiert. Wenn wir akzeptieren, dass Hz.
Mohammed (sallallâhu 'alaihi wa sallam) der letzte
Prophet war und der Islam für alle Menschen und für
immer offenbart wurde, dann dürfen wir nicht
gleichzeitig fordern, dass kulturell bedingte Formen des
religiösen Ausdrucks sich nicht mehr ändern sollen. Das
wäre ein Widerspruch, der ganz besonders vom
aufgeklärten Menschen nicht akzeptiert würde.
Ob zu recht oder unrecht: der Mensch im Westen empfindet
sehr oft den islamischen Kodex als ein im Ordnungsdenken
des 10. Jahrhunderts erstarrtes Dogma, das der modernen
Zeit nicht mehr Rechnung trägt. Zumindest sieht er im
Islam ein Festhalten an Denkweisen und
Lebensgewohnheiten aus dem Orient. Eine solche Sicht
schränkt den Islam in seiner Universalität stark ein,
und es ist darum verständlich, dass der Mensch im
Okzident oftmals Mühe bekundet, sein Herz vollständig
dem Islam zu schenken. Insbesondere versteht die Frau im
Westen nicht, warum sie in einer Gesellschaft, die sich
islamisch nennt, nicht die gleichen Rechte haben soll
wie der Mann, hatte sich doch Hz. Mohammed (sallallâhu
'alaihi wa sallam) gerade für die Frauenrechte besonders
eingesetzt.
Jene Menschen, die mit der christlichen Kirche Mühe
bekunden – und davon gibt es im Westen viele - verneinen
mehrheitlich jeglichen Besitzanspruch in
philosophischen, ethischen, moralischen und religiösen
Fragen. Der Westen ist geprägt von der Entwicklung nach
der französischen Revolution im 18. Jahrhundert, die das
Verständnis der Demokratie wiederbelebte und der
Säkularisierung den Weg bereitete. Eigenverantwortliches
Handeln rückte in den Vordergrund: Die Weiterentwicklung
der Ethik und Philosophie geschah ohne Bindung an
traditionelle religiöse Moralvorstellungen und
Verhaltensweisen. Aber auch die familiären
Abhängigkeiten begannen sich zu verlieren, und die Frau
erhielt langsam den notwendigen Freiraum, um sich ihre
Rechte zu kümmern. Und so sind die Freiheit des Denkens
und des Ausdrucks und damit ganz allgemein die
individuelle Freiheit des Menschen, die Verantwortung
des Individuums und die Wahlfreiheit des Menschen in
seinem religiösen Ausdruck Aspekte, die immer zu
berücksichtigen sind, wenn wir darüber diskutieren
wollen, wie die Ausbreitung und Gestaltung einer
islamisch geprägten Religiosität im Westen möglich sein
soll.
Mit der Säkularisierung kam vielleicht nicht zufällig
auch die technische Entwicklung und damit ein sich
Konzentrieren auf den Fortschritt, was nebst dem
segensreichen Komfort leider auch ein Austrocknen der
Herzen mit sich brachte. Die Sehnsucht nach Gott ist
natürlich geblieben, und in der Überzeugung, dass die
einst mächtigen christlichen Kirchen ausgedient haben,
begannen viele Menschen im Westen ihren Herzensdurst an
den Übersetzungen der Werke grosser Sufis und
fernöstlicher Mystiker zu löschen. Die Werke Hz.
Mevlanas (radhiyallâhu 'anhu) sind für sie ausgesprochen
attraktiv, denn sie glauben darin abzuleiten, dass sie
in ihrer Beschäftigung mit Tasawuf die ihnen so wichtige
individuelle Freiheit bewahren können. Es besteht kein
Zweifel darüber, dass der Islam mit seiner universellen
und abschliessenden Botschaft im Westen an Bedeutung
gewinnen wird, doch nicht ohne Gefahr.
Im Begehren, sich auf die Weisheit der grossen
islamischen Heiligen einzulassen, und in der
gleichzeitigen Voreingenommenheit gegenüber
orientalischer Lebensformen, fällt der oder die Suchende
in die Arme von Anbietern esoterischer Kurse und Bücher,
die unter dem Begriff "Sufismus" seltsame Cocktails
mischen. Der Irrsinn geht so weit, dass in bestimmten
Kreisen behauptet wird, Sufismus sei viel älter als der
Islam und habe nichts mit Islam zu tun.
Die Bedeutung Hz. Mevlanas (radhiyallâhu 'anhu) für den
Islam in der heutigen Zeit ist etwa zu vergleichen mit
der Bedeutung Einsteins in der Physik. Einstein hat mit
seiner Relativitätstheorie nicht die Gesetze Newtons
ersetzt, sondern er hat sie in einem breiteren Lichte
gezeigt. Und so hat Hz. Mevlana (radhiyallâhu 'anhu),
der ein vorbildlicher Liebhaber unseres Propheten war,
ohne den Kern des Islam in Frage zu stellen, den
Pluralismus zugelassen und auf die Schönheit der
Vielheit hingewiesen. In einer Gesellschaft, die das
Patriarchat am Leben erhält, ist kein wirklicher
Pluralismus möglich, und ohne Pluralismus gibt es keine
Demokratie. Eine religiöse Gemeinschaft (Umma), die
keine Vielfalt zulässt, verfällt in den
Fundamentalismus. Hz. Mevlana (radhiyallâhu 'anhu) hat
gezeigt, dass Gottesgläubigkeit und Demokratie sich
ergänzen können.
Gottesgläubigkeit verlangt die Hingabe an die
letztendliche Autorität Gottes und Seine Gebote. Im
Gegensatz dazu verlangt ein demokratisches Zusammenleben
in der Gesellschaft das Eingehen auf Kompromisse auch
gegenüber Andersgläubigen. Die Lösung dieses Gegensatzes
liegt in der Anerkennung der essenziellen
Gleichwertigkeit aller Menschen und in der Erkenntnis,
dass wir Gottes Geheimnisse nie ergründen können. Damit
erhält der respektvolle Umgang mit den Menschen und der
Umwelt (Adab) eine wichtige Bedeutung. Das Üben des
Respektes gehört zu den zentralen Pflichten eines
Mevlevi, denn dies alleine stärkt uns auf der
Gratwanderung zwischen Erfordernis und Freiwilligkeit,
Herrschen und Zulassen, Unterwerfung und
Eigenwilligkeit, Loslassen und Festhalten. Im ständigen
Paradox zwischen den auferlegten Pflichten und dem
Wissen über die Ohnmacht (Allah alleine entscheidet über
unser Geschick) übt der Mevlevi das Gehen auf dem
geraden Weg.
Ein Sufi wandert mit den Änderungen der Zeit und trauert
nicht den alten Zeiten nach. Früher lebte das Mevlevitum
durch die Existenz von Klostergemeinschaften. Heute ist
die moderne Welt geprägt durch internationale
Vereinbarungen und schnellste
Kommunikationsmöglichkeiten, und sie wird sich noch
weiter verändern. Die international organisierten
Mevlevis sind in ihrer Arbeit nicht mehr auf die Türkei
angewiesen. Trotzdem wäre es schön, in der Türkei ein
sichtbares Zentrum zu betreiben.
Kemal Atatürk hatte der Türkei ein modernes Gesicht
gegeben und es wäre falsch, den Prozess der Moderne
nicht zu unterstützen. Der Erhalt von religiösem und
kulturellem Gut, das den durstigen Herzen der Menschen
eine Quelle sein kann, ist aber nach wie vor von grosser
Bedeutung. Wir sind deshalb dem türkischen
Kulturministerium für seine Bemühungen zur Erhaltung der
Güter und Werke der Mevlevis zu Dank verpflichtet.
Ungeachtet der Tatsache, dass die sehr populär
gewordenen Werke Hz. Mevlanas (radhiyallâhu 'anhu) auch
als Grundlage für unseriöse und übertrieben sentimentale
Veröffentlichungen verwendet werden, und ungeachtet der
Schwierigkeiten, dass selbsternannte Lehrer unter
Berufung auf Mevlana (radhiyallâhu 'anhu) oder die
Mevlevis ihre Dienste als spirituelle Meister gegen Geld
anbieten, versuchen wir, die Authentizität des
Mevlevi-Ordens zu erhalten. Nebst einiger Gruppen in der
Türkei sind wir in der Schweiz, in Deutschland und den
Niederlanden, aber auch in USA und Mexiko so weit
organisiert, dass wir uns wöchentlich zum Dhikr, Sema
und Studium treffen können. Wir stehen in ständiger
Verbindung zum Maqam Çelebi und zum Sertarik (Erster
Postnichin) und behalten so trotz der schnell sich
ändernden Gesellschaft den Bezug zur Geschichte und des
rechtmässigen Erbes des Mevlevitums.
Die Welt dreht sich und bewegt sich weiter und weiter.
Wenn der Semazen seine Arme ausbreitet und im Drehen mit
seinem Sein näher und näher an den Ruhepol im Herzen
gelangt, lösen sich für eine beschränkte und entzückende
Zeit alle Unterschiede zwischen Tradition und Moderne.
Nach dem Sema geht er dann mit gestärkter Gewissheit
wieder an seine Arbeit, den Worten Hz. Mevlanas (radhiyallâhu
'anhu) gedenkend: "Wenn du einen Aprikosenkern ohne die
Schale in die Erde legst, dann wächst nichts; wenn du
ihn aber mit der Schale setzt, wächst ein schöner Baum,
der weitere Früchte bringen wird."
Es gibt Gesetze, die für immer Gültigkeit haben werden,
und es gibt Gewohnheiten, die nicht zum Gesetz erhoben
werden dürfen. Möge Gott uns die Weisheit geben,
zwischen beidem zu unterscheiden, und möge Gott uns die
Kraft geben, dafür einzustehen!
(August 2000)
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